Janosch Boerckel
Den Dingen vertrauen
Den Dingen vertrauen
Nostalgie im Kapitolozän
Als Kind ist es mitunter nicht ganz leicht, vom Gewicht eines Steins nicht auf das eigene Körpergewicht zu schließen, wenn es darum geht, mit diesem Stein die Tragfähigkeit und Stabilität der Eisfläche eines zugefrorenen Sees zu bestimmen. Weitere Experimente sind erforderlich. Man stochert also am Rande mit Ästen herum, schmeißt mit Eisplatten um sich, verlässt mit einem Bein das Ufer, zuckt beim leisesten Knarzen des Eises zusammen und sucht in seiner Textur nach Antworten. Hat das Kreuzundquer aus Rissen nicht etwas Schriftliches? Möge der See noch so viele Indizien offenbaren, wollte man sich auf ihn begeben, sich tragen lassen, so wäre die Grundlage dieser Handlung nicht viel mehr als die Hoffnung, dass es „schon irgendwie gut gehen wird“ – ein Schwanken zwischen blinder Zuversicht und Panik. Nun ist das Phänomen der zugefrorenen Wasseroberflächen in unseren Breitengraden mit wenigen Ausnahmen eher der Vergangenheit zuzuordnen, doch wie konnte es damals selbstverständlich sein, die damit verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen? Seine Kinder in grellfarbige 90er Onesies stecken und unkontrolliert umherschliddern lassen konnte nur, wer der Sache vertraut hat. Worauf bezieht sich dieses Vertrauen? Auf die immanenten Eigenschaften des Eises? Auf vergangene Erlebnisse? Auf eine Auskunft des Deutschen Wetterdienstes? Die Überlegung, die ich hier entfalten möchte, beruht auf der Vorstellung, dass wir nicht nur Menschen und Systemen, etwa ‚den Medien‘, unser Vertrauen schenken, sondern auch Gegenständen, Sachen, Dingen, Entitäten, die wir für gewöhnlich als Objekte beschreiben. Sobald wir einem Ding vertrauen, rufen wir tatsächlich eine komplexe Vertrauenskaskade auf, die unsere Aufmerksamkeit auf die Verschränkung von Mensch- und Dingkonstellationen lenken kann, wenn wir ihr nur Beachtung schenken. Von diesem Standpunkt aus betrachte ich die skulpturale Arbeit Rugged des Künstlers Janosch Boerckel und versuche anhand dieser die einzelnen Richtungen, in die mein Vertrauen fließt, zu explizieren.
Vertrauen trotz Chaos
“Find a place you trust and then try trusting it for a while.” Mit dieser ersten Devise aus ihren Ten Rules For Students And Teachers schaffte es Corina Kent sowohl in die Didaktik sämtlicher Kunsthochschulen als auch auf kitschige Desktophintergründe. Das ist nicht verwunderlich, denn einem Ort vertrauen hat etwas Faszinierendes. Ein Ort ist materiell und sozial aufgeladen zugleich, überwindet gewöhnliche Dualismen, hat eine Atmosphäre, ermöglicht bestimmte Handlungen und verbietet andere. Es erscheint schlüssig, einem Ort vertrauen zu wollen. Vielleicht bezüglich der Produktivität, die an diesem Ort möglich ist, vielleicht hinsichtlich der Inspiration, die er bietet, oder der Ruhe, die ihn umgibt. Wie verhält es sich mit Gegenständen? Muss eine Pianistin nicht ihrem Instrument vertrauen? Gewiss, sonst würde sie ihr Konzert absagen. Vertraue ich nicht meiner Maske, wenn ich im überfüllten ICE sitze? Gewiss, sonst könnte ich nicht tagträumend aus dem Fenster schauen und das Räuspern und Husten im Abteil ignorieren. In einem kürzlich erschienenen Interview mit dem Philosophen und Wissenschaftsforscher Bruno Latour fragt dieser danach, wie das menschliche Subjekt heute im Unterschied zur Moderne zu begreifen sei. Er stellt fest: „Es hat nicht mehr das gleiche Vertrauen in die Objekte. Das Subjekt ist nun von allen möglichen Kräften umgeben, die es ständig und überall beeinflussen.“ Die Welt um uns herum wandelt sich, wird lebendiger, wird unberechenbarer. Müssen wir unsere Art des Vertrauens in die Dinge ändern? Oder es gar aufgeben?
Um dem Vertrauen nachzuspüren, bemühe ich hier den Vertrauensbegriff des Soziologen und Systemtheoretikers Niklas Luhmann. Vertrauen wird diesem zufolge dort nötig, wo die Komplexität der Welt den Wissenshorizont eines Systems – gehen wir hier einmal vom System „Mensch“ aus – übersteigt. Der Begriff der Komplexität „impliziert […], dass die Welt mehr Möglichkeiten zulässt, als Wirklichkeit werden können, und in diesem Sinne „offen“ strukturiert ist.“ Vertrauen, so Luhmann, ermöglicht nun eine Reduktion dieser Komplexität der Umwelt, lässt aus äußerlichem Chaos innere Ordnung werden und erzeugt erst dadurch Handlungsfähigkeit. Wenn wir permanent von allem Möglichen ausgingen, so wären wir wie gelähmt, ja heillos überfordert. Wenn wir es nicht schaffen zu vertrauen, dann reißt der Fluss an potenziellen Aktualisierungen der Gegenwart, der unseren Geist durchfährt, jegliche Entscheidungsfreudigkeit hinfort. Eine reduzierte Form dieses Zustands plagt uns, wenn wir uns völlig übermüdet für eine neue Netflix-Serie entscheiden wollen. Zuspitzend schreibt Luhmann: „Der vertrauensvoll Handelnde engagiert sich so, als ob es in der Zukunft nur bestimmte Möglichkeiten gäbe.“ Wie erscheinen nun diese bestimmten Möglichkeiten plausibel? Damit sie überhaupt vorstellbar sein können, muss eine allgemeingültige Realität, d.h. die Welt, so wie sie intersubjektiv konstituiert wird, das Koordinatensystem für Vertrauenshandlungen bilden. Oder – um bei unserem anfänglichen Beispiel zu bleiben: „Wenn der Wetterdienst etwas behauptet, dann wird es schon stimmen!“
Dem Vertrauen liegt folglich eine Vertrautheit zugrunde. Sie kann als Informationsgerüst verstanden werden, welches sich aus vergangenen Erlebnissen, Überzeugungen und bereits erworbenen Wissen ergibt: „Vertrauen ist überzogene Information, beruht also darauf, dass der Vertrauende sich in gewissen Grundzügen schon auskennt, schon informiert ist, wenn auch nicht dicht genug, nicht vollständig, nicht zuverlässig.“ Vertrautheit – Luhmann nennt sie auch „Weltvertrautheit“ – meint ein mit anderen geteiltes Vonderweltausgehen. Sofern „bewährte Wahrheiten festliegen, braucht das System nicht damit zu rechnen, daß sich alles auf einmal ändert.“ Für philosophische Grundsatzdiskussionen über das Wahre fehlt mir die fachliche Kompetenz, doch ich meine, dass wir uns einem zentralen Mechanismus des Objektvertrauens nähern. Luhmann beantwortet die Frage nach der Wahrheit damit, dass seit dem Triumph der positiven Wissenschaften verbindliche Wahrheit(-en) eben maßgeblich durch wissenschaftliche Disziplinen ausgewiesen werde – nicht etwa durch die Religion oder rein subjektive Vorstellungen. Er deutet darüber hinaus den Konstruktionscharakter von Fakten an: „Man ahnt, daß [sic] hinter allem Gegenstandserleben mögliche Aussagen und hinter allen Aussagen Prozesse menschlicher Informationsverarbeitung stehen und nicht etwa die unwandelbare Wahrheit des Seins.“ Die Prozesse menschlicher Informationsverarbeitungen werden für Bruno Latour ein ganzes Forschungsparadigma auf den Plan rufen – die Science Studies. Wenn unser Dingwissen, unser Gegenstandserleben über die Wissenschaft vermittelt wird, dann muss sich der Weg zur Wahrheit empirisch nachverfolgen lassen. ¬So lautet die Idee, die Latour veranlasste, als Sozialwissenschaftler die Vorgänge in Laboratorien zu analysieren. Er betont, dass Menschen nicht ohne Weiteres die Gesetzmäßigkeiten und Phänomenen der Natur „entdecken“, sondern fokussiert eben dieses Weitere – insbesondere das wissenschaftliche Instrumentarium und die Prozesse des Verschriftlichens, des „Übersetzens“. Das macht Latours Beobachtungen zu wertvollen Schlüsseln, die uns die black box der Weltvertrautheit – dieses diffuse Routinevertrauen, welches auf wissenschaftlicher Objektivität beruht – ein Stück weit öffnen können. Denn sie korrespondiert mit dem, was er die Verfassung der Moderne nennt, welche auf der Trennung „zwischen der Naturwelt – obwohl vom Menschen konstruiert – und der Sozialwelt – obwohl von den Dingen zusammengehalten –” beruht. Weiterhin liegt ihr die Voraussetzung materieller Beständigkeit zugrunde – einer „metaphysisch-methodologische[n] Weltsicht, die zur Etablierung und zum Erfolg der klassisch-modernen Naturwissenschaft beitrug.“ An dieser Stelle sei vermerkt, dass, obwohl sich Überschneidungen im Denken dieser beiden Autoren finden lassen, sie dennoch grundlegend verschiedener Überzeugungen sind. So ist die Trennung der Natur vom Sozialen und umgekehrt für Latour eine Art gesellschaftliche Selbsttäuschung und nur durch die Anerkennung der Verflechtung beider Sphären überwindbar, während Luhmann davon ausgeht, dass die Gesellschaft als System nur durch eben jene Trennung zur Umwelt existieren kann.
Versetzen wir uns noch einmal an den gefrorenen See. Vertrauen wir der Tragfähigkeit des Eises, dann nicht nur auf der Grundlage dilettantischer Uferexperimente, sondern auch, weil wir den Wetterbericht im Radio gehört haben und wir uns auf ein gewisses Expertentum verlassen. Es handelt sich um Vertrauen in „spezielle und nachweisbare Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung, in funktionale Autorität und letztlich in die Funktionsfähigkeit der Wissenschaft als Handlungssystem.“ Die Wissenschaft steht wiederum am Ende der Kette.
Zwei Denkfiguren erscheinen nun zentral. Vertraut man den Dingen, so ist der Vertrauensempfänger nie nur der Mensch – der einen Gegenstand wissenschaftlich erkennt und diese Erkenntnis vermittelt – und nie nur das Ding – welches real existiert und erfahren wird. Zum anderen ist unsere Vertrautheit mit den Dingen immer vermittelt durch das „Medium der Wahrheit“ , welches einen Kommunikationskanal zu autorisierten Expert:innen bildet und bereits reduzierte Komplexität überträgt. Allgemeingültige Wahrheit wird – und da sind sich Luhmann und Latour einig – durch das System der Wissenschaft konstituiert.
Bärtierchen, du irritierst meine Weltvertrautheit!
In den vorangegangen Ausführungen habe ich durch den Rekurs auf Luhmanns Vertrauensbegriff und Latours Wissenschaftstheorie eine Perspektive entwickelt, mit der sich nichtmenschliche Entitäten als Vertrauensempfänger denken lassen, wodurch die Relationalität von Menschen und Dingen herausgestellt wird. Angenommen wird zudem, dass solche Vertrauensleistungen in der Regel nicht Bestandteil unseres bewussten Erlebens sind, da uns die Dinge eben schon vertraut sind. Im Folgenden möchte ich die Arbeit „Rugged“ des Künstlers Janosch Boerckel betrachten, die Vertrauenskaskade nachvollziehen und den Subjekt-Objekt-Netzwerken nachspüren, die diese impliziert.
Für seine Skulpturen arbeitete Boerckel mit Oliver Mecke von Eyes Of Science zusammen – ein Unternehmen, welches durch den Einsatz eines Rasterelektronenmikroskops (Vergrößerungsfaktor bis zu 1.000.000:1[!]) die Nanowelt in eine dem Menschen vertraute Größenordnung skaliert. So konnte der Künstler Scans eines Bärtierchens mit Hilfe der Photogrammmetrie sowie der 3D-Drucktechnik in den dreidimensionalen Raum übersetzen. Ich könnte nun zunächst auf die Eigenschaften dieser nicht mal einen Millimeter großen Lebewesen eingehen. Darauf, dass sie fast allen Lebensumständen trotzen und vom gefrorenen Zustand in den lebendigen übergehen können. Darauf, dass man sie zum Mond geschossen hat, um extraterrestrischen Wesen nach dem Ende des Lebens auf der Erde Auskunft darüber zu geben, was hier so vor sich ging. Vor allem darauf, dass sie wohl uns Menschen überdauern werden und somit eine neue Weltordnung symbolisieren, in der unsere anthropozentristische Weltsicht ausgedient hat, in der wir die Nonhumans politisch miteinbeziehen sollten. Möge die Analyse der beträchtlichen kulturellen Bedeutungszuweisung, die diese Winzlinge erfahren haben, zwar spannend sein, ihr entgeht die Betrachtung der eigentlichen künstlerischen Leistung, um die es hier gehen soll. Instruktiver ist die Frage, wie die Skulptur uns anbietet, ihr zu vertrauen, insofern dieser Zugang uns für unsere Wahrnehmungsweise und das Netzwerk aus Akteuren und Systemen, dessen Teil sie ist, sensibilisiert.
Auffallend ist die außerordentliche, schon fast surreale Präzision, von der die hochauflösenden Oberflächentexturen und die filigranen Gliedmaßen dieser Dingwesen zeugen. Selbst ohne Vorwissen über die den Skulpturen zugrunde liegende reale Existenz der Spezies „Bärtierchen“ liegt durch die Exaktheit der Ausarbeitung ein Abbildungscharakter nahe – „it’s too precise not to be real!“ Vertrautheit kommt ins Spiel, wenn ich mich an Mikroskop-Aufnahmen von Insekten erinnert fühle, deren Wahrheitsgehalt ich nicht anzweifle, bin ich sie doch aus wissenschaftsjournalistischen Medienberichten, mindestens aber aus dem Biologieunterricht gewohnt. Bild- und Wissenschaftsgeschichte haben sich seit jeher gegenseitig durchdrungen, ihr Nachvollzug, d.h. der Grund, warum wir Bildern Faktizität zuschreiben, ist m.E. eines der Hauptprobleme der Bildwissenschaften und kann hier nur angedeutet werden. Fest steht, dass insbesondere jene Sphären, die ohne Hinzunahme von Technologie, von Rasterelektronenmikroskopen und Hubble-Teleskopen, außerhalb unserer Sinneswahrnehmung liegen, sich im Verlaufe des letzten Jahrhunderts zu den bedeutsamsten Motiven wissenschaftlicher Aufnahmetechnik entwickelten. Denn „nicht mehr die vertraute (Um-)Welt, sondern die fremde Welt der Extreme gilt einzig als erkenntnisrelevant und wissenswürdig.“ Der Prozess der Sichtbarmachung (des mikroskopisch Kleinen) kann nicht vom Wissen über den Gegenstand abstrahiert werden.
Ja, ganz unbestreitbar vertraue ich der Technik, die hier zum Einsatz kommt. Ich vertraue dem Elektronenmikroskop, doch gleichzeitig auch der Person, die es bedient. Ich vertraue dem Code, der das digitale Bild entstehen lässt als auch den Coder:innen. Ich vertraue ferner dem Prinzip der Skalierung, welches besagt, dass sich das Objekt „nur“ vergrößert, aber nicht wesentlich ändert. Es ist das Bärtierchen „in groß“, und nicht nicht das Bärtierchen „in klein“. Diese Unterschlagung skalarer Differenz kann als weitere Reduktion von Komplexität gewertet werden. Kurator:innen bauen Ausstellungsmodelle, um die Relationen der Kunstwerke sowie des Raums vorauszusehen, Alice schrumpft, als sie von einem Fliegenpilz isst, aber bleibt ansonsten unverändert , Menschen stibitzen „niedliche“ Miniaturmarmeladengläser aus Hotels, weil sie wie Kopien der „echten“ Gläser wirken. In besonderem Maße wurde diese Logik vom Designerpaar Ray und Charles Eames aufgegriffen und in die Gesellschaft eingeschrieben, als sie mit ihrem für IBM produzierten Kurzfilm „Powers Of Ten“ (1977) die Erweiterung des menschlichen Mesokosmos des Wahrnehmbaren aus den Laboren und Weltraumbeobachtungsstationen in die Öffentlichkeit überführten. Der Film besteht aus einem stufenlosen, einer logarithmischen Skala folgenden Zoom – von einem Picknick eines Pärchens am Lake Michigan hinaus bis in den einhundert Lichtjahre entfernten Weltraum und zurück, dieses Mal in den Mikrokosmos einer Hautzelle und schließlich bei den Quarks in einem Proton eines Kohlenstoffatoms endend. Die verschiedenen Größenordnungen fallen allesamt ins selbe Raumkontinuum, interskalare Differenz weicht der Idee, dass wir epistemologische und ontologische Fragestellungen nicht anpassen müssen, obwohl wir uns jenseits der direkten, sinnlichen Beobachtung befinden. Dabei sind es gerade die durch Nanotechnologie vermittelten Erkenntnisse über die Aktivität von Atomen, Molekülen und dergleichen, die uns heute dazu veranlassen, die moderne Verfassung, wie von Latour beschrieben, zu hinterfragen und ein neues Verständnis der materiellen Welt, welche plötzlich aktiver, ja autonomer erschient, zu entwerfen. Der Begriff der Skalierung erlebt eine anhaltende Hochkonjunktur in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen, doch eine weitere Vertiefung würde den Rahmen des hier anvisierten Gedankenexperiments sprengen. Relevant ist, dass der bewusste Nachvollzug des Objektvertrauens nicht nur die Netzwerke zwischen Dingen und Subjekten aufdecken kann, sondern auch Weltanschauungen, ästhetische und logische Denkweisen. Dies kann als Ausgangspunkt für deren Untersuchung am Objekt dienen, zu welchem ich nun zurückkehren möchte.
Die Natürlichkeit der Skulptur scheint also größeninvariant zu sein, die ästhetische Selektion des Künstlers bezüglich des Maßstabs tritt hinter einem Commonsense zurück. Verweilen wir kurz bei diesem Exkurs in die Ästhetik, fällt auf, dass auch das Material zur Naturalisierung des Objekts beiträgt. Die Spezifizität des 3D-Druckerzeugnisses fällt nicht ins Auge, da dieses Verfahren mittlerweile verbreitet und standardisiert ist. So stutzen wir nicht, wenn wir einen Brief im DIN-A4-Format erhalten, täten dies allerdings, weichte er davon ab. Ähnliches erleben wir alltäglich in unserer digitalen Kommunikation, insoweit das technische Medium erst ins Bewusstsein tritt, wenn der Informationsfluss gestört wird – solange im Zoomcall keine Glitches auftauchen, ignorieren wir seine Medialität. Größe und Material stören also die initiale Vermutung eines naturwissenschaftlichen Bezugs nicht. Ganz anders verhält es sich mit der monochromen Farbgebung, welche ich als arbiträren künstlerischen Eingriff erlebe. Das mag daran liegen, dass ich die vorherigen Arbeitsschritte zunächst nicht als Manipulation begreife und der räumlichen Ausdehnung des Objekts mehr Wirklichkeit zuschreibe. Offensichtlich lebt Immanuel Kants Unterscheidung von Anschauung und Empfindung in mir fort, denn die Farbigkeit stelle ich mir eher als physiologischen Effekt vor, statt als Objekteigenschaft. Sie „ist eben nicht im selben Sinne [wie die Form] eine Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung von etwas außer uns.“
Doch weshalb muss ich „Rugged“ überhaupt vertrauen? Weshalb fällt es nicht nur in die Kategorie „Weltvertrautheit“? Nun, wir befinden uns im System Kunst und können daher nicht schlicht aus dem Kontext die Wissenschaftlichkeit des Artefakts ableiten, so wie es etwa beim Hören des Radioberichts über die Begehbarkeit von vereisten Seen der Fall wäre. Der Künstler könnte schließlich ein völlig fiktives Wesen erschaffen haben. Um als Betrachter diesen sonderbaren Gegenstand verarbeiten und mit Assoziationen belegen zu können, entscheide ich mich also für eine Denkrichtung und nehme das Risiko in Kauf, dass ich mich irre und der Gedankenanstoß, den mir das Kunstwerk gibt im Nachhinein kommunikativ entwertet werden könnte. Das wäre soziologisch gesehen eine Krise! Doch wie wir uns Kunstwerken im Vergleich zu Gegenständen des Alltags nähern, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
Die Wissenschaft – in ihrer Exaktheit und Präzision – hat sich nach dieser kurzen Analyse als Hauptempfänger meines Vertrauens erwiesen. Ich vertraue den Wissenschaftler:innen darin, dass sie sich an die Regeln halten. Ich verlasse mich darauf, dass sie die Dinge diesen Regeln entsprechend beschreiben: „Wissenschaftler sind die skrupulösen Repräsentanten der Fakten. Wer spricht, wenn sie sprechen? Zweifellos die Fakten selbst, aber ebenfalls ihre autorisierten Sprecher. Wer spricht also, die Natur oder die Menschen?“ Oder anders gefragt: Wem vertrauen wir, den Apparaten, dem Bärtierchen oder den Menschen? Es kann nur das „Kollektiv“ sein, die Verflochtenheit von Sozialem und Natürlichem, denn „alles spielt sich in der Mitte ab, alles passiert zwischen den Polen [des Subjekt-Objekt-Kontinuums], alles geschieht durch Vermittlung, Übersetzung und Netze […].“
Speculative Everything
Luhmanns Abhandlung über das Vertrauen bezieht sich nicht explizit auf eine Vertrauensbeziehung zwischen Menschen und Dingen, da für ihn erst die Handlungsfähigkeit des menschlichen Gegenübers die Kontingenz der Zukunft derart steigert, dass reine Vertrautheit nicht mehr greifen kann. Im Gegensatz dazu und in Anlehnung an Latours Philosophie gehe ich davon aus, dass wir nicht in einer Welt leben, die der Ontologie der Moderne – nach der es passive Objekte und intentionale Subjekte gibt, die jeweils isolierte Sphären bilden – entspricht. Es gibt zum einen Dinge, die unberechenbar sind und uns auf einer anderen Größenordnung begegnen, als wir es gewohnt sind. Das wird an der Covid-19 Pandemie und den Folgen des Klimawandels ausreichend deutlich. Je mehr Wissen die Wissenschaft produziert – gerade auf der Nanoebene – und je weniger anthropozentrisch wir denken, desto deutlicher wird, dass wir Attribute wie „beständig“ oder „kausal-abhängig“ spärlicher einsetzen werden. Zum anderen sind Objekte immer potenziell handlungsbeeinflussend, sie können auf Menschen derart einwirken, dass diese sich nach ihnen richten. Vertrauen wir einem Ding, dann steckt darin implizit das Bewusstsein – ein Risikobewusstsein – über jene Wirkmächtigkeit, die den Lauf der Dinge entscheidend ändern kann. Diese zwei Sachverhalte mögen der Grund sein, weshalb momentan der Affix speculative im Rahmen zahlreicher Forschungsmethoden zirkuliert. Sind wir an einem Punkt, an dem wir vom Vertrauen ins Spekulieren wechseln müssen? Ist nun alles in Bewegung, alles chaotisch? Müssen wir gar unsere Weltvertrautheit aufgeben? Ich möchte meinen, wir können weiterhin die Grundfesten des Vonderweltausgehens annehmen und uns danach richten. Ich werde höchstwahrscheinlich nicht ziellos durch den Raum schweben, sobald ich mich von meinem Arbeitsplatz erhebe, die Schwerkraft hat Bestand. Dennoch möchte ich behaupten, dass ein Wechsel des Modus Operandi vom Routinevertrauen ins bewusste Vertrauen uns vorsichtiger mit den Dingen umgehen lassen wird und eine Reflexion unserer Denkweise bereithält. Insbesondere konnte am Beispiel der hier gezeigeten Skulptur(en) herausgearbeitet werden, dass die Ästhetik naturwissenschaftlicher Bildgenerierungsverfahren eine konstitutive Funktion in der Vollendung von Tatsachen hat. So sind „es sind auch ästhetische Dimensionen, […] durch die ein Wissen einen Objektivitätsstatus zuerkannt und eine Geltung zugesprochen bekommt.“ Darüber wurde veranschaulicht, wie Skalierung als mediale, kulturelle und wissenschaftliche Praxis die Skaleninvarianz der Eigenschaften einer Entität behauptet und somit Komplexität reduziert. Den Dingen vertrauen bedeutet, sich seiner selbst gewahr zu werden und gleichzeitig das Netzwerk zu spüren, in das man mitsamt den Dingen eingebettet ist.
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